Wie definiert man sich selbst?
Ich habe mich selbst sehr lange darüber definiert, wie gut ich mich anpassen und masken kann. Je härter ich gegen mich selbst war, je besser funktionierte ich in einem Team, das weder mich noch meine Bedürfnisse kannte. Kunststück, ich kannte sie ja selbst kaum. Denn auf dem Weg, mich bloß "typisch" zu geben, hatte ich irgendwann vergessen, wer ich bin.
Ich verbrauchte sehr viel Kraft, um mich anzupassen und war stolz darauf, mich "so" geben zu können. Dabei vergaß ich, wie viel Kraft ich für dieses Tun einsetzte und damit für mich verlor. Wie oft hatte ich abends das Gefühl, dass meine Gesichtsmuskeln schmerzten, weil ich ständig Mimik anstoßen musste. Wie viel Zeit ich damit verbrachte, dieses Neuronormierte (ich verwende statt neurotypisch das Wort neuronormiert. Denn auch ich bin neurotypisch - für einen Autisten) zu trainieren - statt zu leben. Ich kann heute auf den Punkt eine Gestik in mir anstoßen, so dass jeder glaubt, diese wäre "natürlich in mir entstanden". Dabei habe ich das jahrelang trainiert.
Eines Tages stellte ich fest, dass mir meine Kraft ausging. Es war, als ob sich ein Teil meiner Persönlichkeit von mir entfernt hatte, weil ich ihm gegenüber nicht sorgsam war, sondern ihn an den Rand meines Bewusstseins gedrängt hatte. Und je mehr ich mich von mir entfernte, je energieloser wurde ich. Eine seltsame Art von Müdigkeit legte sich über mich.
Bedürfnisse erkennen oder das Ende der Müdigkeit
Ich musste meine Bedürfnisse begreifen und wertzuschätzen lernen. Selbstfürsorge - für jemanden, der sich jahrelang darüber definiert hatte, sich selbst Dinge zu verwehren. Je mehr Selbstkontrolle, desto besser. Und nun Selbstfürsorge? Sollte das der richtige Weg sein?
Dieser Weg war "steinig" (RW) und viele dieser Steine rollten unerwartet vor meine Füße. Manche schienen sich nicht zu bewegen, egal, wie sehr ich mich gegen sie stemmte.
Als ich mich zur Diagnostik entschloss, war mir nicht bewusst, dass ich auch auf Stereotype treffen würde. Dass mich einige Menschen diskriminieren würden, nur weil ich nun ein Label hatte - Autist. Meinem Freundeskreis war der Name egal. Aber in einer Institution, deren Aufgabe es gewesen wäre, mich zu unterstützen, verschwand meine Persönlichkeit unter dem Label Autist. Meine hohe Funktionalität, meine Fähigkeiten wurde ignoriert. Als ob die Frau, die ich vorher war, sich aufgelöst hätte.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass mir jemand sagt, dass er besser wisse als ich, was gut für mich sei. Mir stellte sich die Frage, wie damit umgehen? Denn hinnehmen würde ich paternalistisches Verhalten nicht.
Sachargumente, Faktenwissen waren/sind die Fertigkeiten, die ich in eine Diskussion einbringen kann. Ich kann nur logisch. Mir war nicht klar, dass es unmöglich sein könnte, jemanden mit Argumenten und Fakten zu überzeugen, der von Berufes wegen daran interessiert sein sollte. Das musste ich erst einmal verarbeiten und jetzt beim Schreiben dieser Zeilen spüre ich immer noch eine Irritation, dass so etwas möglich ist. Wie kann man Fakten ablehnen?
Neu orientieren?
Gleichzeitig fühlte ich mich seltsamerweise wohler in mir. Diese unglaubliche Müdigkeit wich langsam dem Wunsch nach Neuem. Lernen, Leben, Erleben. Es war, als ob ich langsam aus einem sehr tiefen Schlaf aufwachen würde. Ich musste mich erst einmal umschauen und neu orientieren.
Während ich auf dem Weg war, wurde mir klar, dass ich nicht mehr in mein altes Leben passte. Meine Bereitschaft, mich offener zu leben, brachte einen großen Impact auf mein Leben mit sich : Ich würde meinen Beruf nach 15 Jahre aufgeben und mich auf einen beruflichen Neustart fokussieren müssen. Da katapultierte mich etwas aus meinem alten Leben - und das war ich selbst?
Ich passte nicht mehr in das Anforderungsprofil, das ich lange ausgefüllt hatte. Laut, hektisch und hell war mein Arbeitsplatz und im Rahmen meiner Selbstfürsorge musste ich erkennen, dass ich mir diese Reize nicht mehr in dieser Intensität antun durfte. Es hätte mich irgendwann um meine kognitiven Fähigkeiten gebracht.
Zu erkennen, dass man mich so, wie ich nun bin und wie meine Bedürfnisse sind, nicht mehr für diese Stelle brauchen konnte, fühlte sich seltsam an. Sollte ich doch wieder zurück in dieses "Zurücknehmen meiner Bedürfnisse" durch harte Selbstkontrolle? Nein, das war mir nicht mehr möglich. Ich hatte mich verändert und mit der Aufgabe meines bisherigen Arbeitsplatzes stellte mich dieser Wahrheit. Der Schritt war schwer, nicht aus Angst vor dem Neuen, sondern wegen der daraus entstehenden finanziellen Konsequenzen.
"Sich neu (er)finden" (RW)
Ich wollte sorgsam mit mir sein. Es schien also nur eine harte Exit-Strategie für mich zu geben: ich musste mich nicht nur als Menschen, sondern auch als arbeitender Autist neu "finden". Ich führte/führe einen Kampf um einen Neustart, bei dem ich mich manchmal frage, warum ist das alles so kompliziert? Seht ihr eigentlich, wer ich bin und was ich leisten kann?
Und doch bin ich mir selbst so nahe. Mein Bedürfnis, zu leben, zu lernen und neue Erfahrungen zu sammeln, ist so stark, dass ich nicht aufgebe. Vieles könnte einfacher sein: Würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen erkennen, was ich leisten kann und welchen Wert Menschen wie ich haben, dann wäre mein Weg leichter. Ich könnte sorgenfreier wählen. Der Gedanke, dass es in Zukunft anderen leichter gemacht wird, sich frei zu entscheiden, treibt mich an, diese Website zu gestalten und mich zu engagieren.
In den letzten Wochen habe ich andere Autist*innen befragt, Fachleute kontaktiert und zu meinem Entsetzen erfahren, dass ich noch "privilegiert" bin. Ich habe einen tollen Freundeskreis, einen Partner, mit dem ich die Zukunft plane und ich habe die Ressourcen für meinen Weg. So viele "Asperger" müssen diesen Weg alleine gehen. Dabei bräuchte es so wenig, ihnen den Neustart zu erleichtern. Ob Exit-Strategie aus dem alten Beruf oder Anpassungen im beruflichen Umfeld. Mehr Wissen über unsere Fähigkeiten und Respekt vor unserer Leistung würde vieles erleichtern.
Das WIR neu definieren - Autist*innen und Neurotypische als Gemeinschaft erkennen?
Es erscheint mir sehr wichtig, dass wir - Autist*innen und Neuronormative - einander besser kennen lernen. Die Bedürfnisse, Fähigkeiten der anderen wertschätzen und uns gemeinsam auf die Reise machen, diese Welt jeden Tag ein Stück leichter, besser zu machen. Kein Hochglanz-Diversity-Gerede für das "Wir sind so toll"-Firmen-Branding, sondern echte Bereitschaft aufeinander zuzugehen.
An dieser Arbeit würde ich gerne teilhaben: Der Sinn dieser HP wird es sein, sich mit neuen Studien auseinanderzusetzen, zu hinterfragen und mit Wissenschaftler*innen, Forscher*innen, Autist*innen zu sprechen und dabei Synergien zu entdecken, die uns gemeinsam das Leben erleichtern.
Ein solches Ziel ist nicht alleine zu erreichen und so würde ich mich über Feedback, Vorschläge und Hinweise freuen.