Störung oder nicht Störung - ist das eine Frage?

ASS, ASD, ASK, ASK was steckt hinter den Abkürzungen und 
wie kann ich mich da wiederfinden (RW)?  

Wann immer Sie sich mit dem Thema Autismus beschäftigen, bedenken sie, dass Sie von einer extrem heterogenen Gruppe ausgehen müssen, die bereits in Deutschland +/- 840.000 Menschen umfasst (1). Das sind acht Großstädte mit mehr als 100.000 Menschen, vom Baby bis zum Greis.

Glauben sie, dass die Bewohner mehrere Großstädte bei einem komplexen Thema deckungsgleiche Bewertungen abgeben würden? Dass sie die gleichen Bedürfnisse und Wünsche haben? Von hochbegabt bis lernbehindert? Von jung bis alt? Von arm bis reich? Wahrscheinlich nicht. 

Wie sollte dann eine solche heterogene Gruppe von Autist*innen einer Meinung sind, nur weil Sie unter dem Begriff "ASS" zusammengefasst werden? Wann immer Sie etwas von einem Autisten, einer Autistin lesen, vergessen Sie nicht, Sie kennen eine/n von Millionen Autist*innen auf dieser Welt. Mehr nicht. 

Ich schreibe aus meinem Teilbereich dieses unglaublich großen Spektrums. Früher wäre ich als Asperger Autist bezeichnet worden, ich bin berufstätig (brauche klare Reizarmut), treibe Sport (keinen Mannschaftssport), kann Ihnen dank Masking sogar bis zu einem gewissen Grad den Neuro imitieren und bin immer noch auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Für mich sind andere Themen wichtig als für die nächsten Autist*innen, die Sie treffen werden. Ich bin nur eine von vielen verschiedenen Menschen, mit unterschiedlichen Wünschen, Zielen und Ansprüchen. Ich möchte Ihnen einen Blick anbieten in die Gedanken dieses einen Asperger Autisten, der nun per Definition eine ASS, eine Autismus Spektrum Störung hat:

 

Was heißt ASS?

Der Begriff ASS steht für Autismus Spektrum Störung und löst damit als großer Überbegriff verschiedene Bezeichnungen, wie Asperger, HFA, atypischer und frühkindlicher Autismus ab. Grund war, dass es der Wissenschaft kaum möglich war, die vorherigen Definitionen trennscharf untereinander abzugrenzen. Dieses Problem sollte mit dem Begriff ASS - Autismus Spektrum Störung behoben werden. 

Aus wissenschaftlicher Sicht ein didaktisch kluger und sicherlich bequemer Move. Doch er täuscht darüber hinweg, dass diese Wissenschaft so genau gar nicht weiß, was sie da an Menschen in ihrer Heterogenität zusammenfasst. Sie kann nur sagen, dass sie darunter definierte Abweichungen von einer Norm subsumiert. So befinden sich Menschen mit unterschiedlichsten Ansprüchen und Bedürfnissen in einer Großgruppe und werden lediglich über einer unscharfen großen gemeinsame "Störung" definiert, die sie von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt. Es lassen sich nur noch zwei Spektren definieren: die mit und ohne Autismus. Das dabei die unterschiedlichen Ansprüche, Potentiale, Bedürfnisse, Möglichkeiten dieser unscharfen Großgruppe unter dem Marker Störung zusammengefasst werden, schafft außerhalb der Medizin/Psychologie leider Probleme:

Störung:

Die Definition stellt explizit auf die Störung ab, kommt sie doch aus der Medizin und Psychologie und soll damit Ansatzpunkte für Interventionen, Behandlungen aufzeigen. Basis sind die gemeinsamen Defizite. Wobei ich mir erlaube zu hinterfragen, wer denn festgestellt hat, dass die Merkmale des Autismus a priori eine Störung und damit ein Defizit sind. Und nur durch die Akzeptanz dieser Defizit-Definition kommt der/die Autist*in an Unterstützung und der Möglichkeit, ein autismusgerechtes Leben zu führen ohne sich zu segregieren. Trotzdem kommt es zu Segregation von Autist*innen, leise und für die Mehrheitsgesellschaft unbemerkt.

Interessanterweise steht diese Defizit-Definition diametral zum dem, was sich grade in der Forschung bewegt. Es geht weg vom, "wir machen was mit denen", immer mehr Forscher*innen binden Autist*innen ein. Studien werden autist*innengerecht durchgeführt. Es wird neu definiert, was erlaubt ist, Übergriffigkeiten werden aufgezeigt und abgelehnt. Althergebrachtes wird überprüft.

Moderne Studien zeigen z.B., dass bestimmte IQ-Tests die Intelligenz von Autist*innen nicht genau abbilden. So ergaben sich bei einer Studie von Prof. Mottron (2.) signifikante Unterschiede von durchschnittlich 30 % beim Vergleich der Ergebnisse von von zwischen dem Raven Tests und dem Wechsler Test bei Autist*innen. 30 Punkte sind zwei Standardabweichungen! 

Es werden neue Therapiekonzepte evaluiert, neue Ansätze erprobt und es zeigt sich eine Bewegung innerhalb der Forschung, die unterstützender nicht sein könnte. 2022 wird in einer Multicenterstudie (3) die "Wirksamkeit eines Gruppentherapie. Verfahrens /Faster.... sowie eines computerbasierten Online-Trainings.... im Vergleich zu keiner autismusspezifischen Behandlung untersucht.  Trotzdem bildet sich das Wissen und die neue Art der Fragen noch nicht ausreichend in unserer gemeinsamen Gesellschaft ab. 

Wie ein Damoklesschwert schwebt dieses ASS über dem/der berufstätigen Autist*in. Wenn dieses Wort Störung den medizinisch-wissenschaftlichen Orbit verlässt, hat dies Auswirkungen, negative Auswirkungen im sozialen Miteinander und der beruflichen Weiterentwicklung. Ist Kollege/in A anderer Meinung und hat unangenehmerweise recht oder ist er/sie einfach ein Mensch mit einer AS-Störung und man muss sich erst gar nicht auf eine Diskussion mit ihm einlassen? Wer den Berufsalltag kennengelernt hat, weiß, wie schnell eine solche Bezeichnung zu einer Stigmatisierung führen kann. Wie schnell kann es passieren, dass diese Unterscheidung gestört/ungestört dazu führt, dass Kolleg*innen glauben, beurteilen zu dürfen. Ja, qua Definition das Recht haben aktiv auf das Verhalten des Autist*in einzuwirken und ihn nach ihren Wunschvorstellungen zu begrenzen.

Wer braucht das Wort Störung außerhalb des medizinischen Kontextes? 

Es stellt ein negatives Framing dar, das sich wie ein schmutziger Schleier aus Vorurteilen auf die Potentialen und Möglichkeiten von Autist*innen legt. Ich bin Asperger Autist, im Spektrum, im Autismus Spektrum und rede über das Autismus Spektrum bzw den Autismus Spektrum Konditionen. Wieso sollte ich irgendwem im privaten oder beruflichen Kontext erlauben, mich als Mensch mit einer Störung zu bezeichnen? Ich denke, dass es an der Zeit wird, dass wir Autist*innen uns mit einer anderen Form von Selbstbewusstsein unserem "So-Sein" zu widmen. 

Natürlich reagiere ich anders als Neuros und habe daher in unserer Gesellschaft massive Schwierigkeiten. Für mich ist es eine Herausforderung, in einem lauten Lokal Person X zuzuhören. Daher sitze ich so, dass es mindestens eine Wand hinter/neben mir gibt. Gerne auch zwei. Und nicht im hellen Licht oder an einem Tisch, an dem viele Menschen vorbeigehen. Und meine Freunde wissen das. Meine andere Art der Reizverarbeitung, die mich hindert, an einem vollen, lauten Tisch im Gedränge zu sitzen, ist dann nämlich keine Störung mehr, sondern meine Präferenz ist einfach anders. 

Ich wähle einen Rahmen, der für mich stimmig ist und das heißt reizreduziert. Meine Freunde können gerne tausendmal die wildesten Partys feiern und ich genieße in der gleichen Zeit meine Ruhe und Zurückgezogenheit. So sind wir alle zufrieden. Aber wenn wir dann gemeinsam Essen gehen, dann gibt es einen Sitzplatz mit Wand und jeder weiß, dass ich danach heim möchte und es mich freut, wenn sie dann noch weiterziehen. 

Asperger Autist sein heißt für mich, dass ich die unnötigen und krankmachenden Reize nicht resigniert hinnehme, sondern mir ein Umfeld schaffe, in dem ich glücklich und gesund leben kann. Erlerne, wie ich funktioniere und was ich brauche.

Mit meinem Eintreten(RW)gegen das Wort Störung ergeben sich neue Probleme. Denn wenn ich keine Störung habe, warum brauche ich dann Unterstützung und Anpassungen? Und hier ist ihre Ambiguitätstoleranz gefordert *s*, denn ich brauche tatsächlich in der jetzigen Umwelt den "Schutz eines Behindertenausweises".  Der Grad von 40, den ich habe, entspricht nicht im Ansatz den tatsächlichen Einschränkungen, die ich habe - in der Umwelt, so wie sie ist. Klingt für Sie seltsam? Lassen Sie mich es Ihnen erklären. 

Meine neurologische Andersartigkeit führt dazu, dass ich auf Reize anders und häufig intensiver reagiere als Sie. Auch habe ich einen anderen Zugang zum Verarbeiten von Daten und damit zum Lernen. Und ich benötige andere Lernewege. So, wie ein Linkshänder kein "Rechtshandgestörter" ist, sondern einen Füller für Linkshänder nutzen muss, den er dann auch anders hält. Ich brauche eine reizärmere Umgebung, eine andere Art des Lernens, andere solziale Interaktionen, andere Mengen von und einen anderen Zugriff auf Details. 

Diese Anforderungen sind in unserer Gemeinschaft, in der ich ein gleichwertiger Teil bin, so nicht gegeben. Ich treffe ständig auf Reizszenarien, die mich zwingen, Umwege zu gehen oder mich zu massiv zu belasten. Nehme ich die auf Sie ausgerichtete Umwelt hin, schädige ich meine Gesundheit und meine Leistungsfähigkeit nimmt ab. Also muss ich mich in vielen Dingen rausnehmen, die ich eigentlich gerne tun würde. Ich bin bereits aus Zügen ausgestiegen (trotz Sitzplatzreservierung in der quiet zone), weil andere Grenzen überschritten und dort laut waren. Ich bin gegangen, denn nicht immer ist es mir möglich, Anpassungen vorzunehmen, die für mich wichtig wären. Ich habe mich oft gefragt, wieso es mir schwer fiel, so zu lernen, wie andere. Heute weiß ich, dass ich ein anderes Lernen, andere Lernkonzepte brauche. Ich benötige weitaus mehr Details und muss diese dann in eine Struktur bringen. Tiefe und Breite des Wissens müssen bei mir eine bestimmte Detailtiefe erreichen, sonst bin ich unzufrieden. 

Ich begebe mich also unter den Schutz einer offiziellen Behinderung, um freier und gesünder zu leben. Nicht, weil ich mich als autistisch gestört definiere, sondern weil ich in einer Umwelt lebe, in der mehr Reize erzeugen werden als ich verkraften kann und in der Regeln herrschen, die mich anstrengen.

Ja, mir ist deutlich bewusst, dass unter dem Überbegriff ASS auch Menschen mit mir in einer Gruppe sind, die ganz andere Arten der Intervention und Unterstützung wünschen und benötigen. Aber auch da gilt für mich der gleiche Grundsatz: Das Hauptaugenmerk sollte nicht einfach auf die Beseitigung von Störungen, festgelegt am Profil von Nicht-Autist*innen, erfolgen, sondern anhand der Frage: Was braucht dieser spezielle Mensch, um glücklich und gesund zu leben? 

Das Glück des jedes Menschen

Das sollte die Basis jeglicher Intervention sein. Nicht das Beheben einer Störung, die als Andersartigkeit zu der Mehrheitsgesellschaft definiert wird. Es muss um das Glücklichsein und die Gesundheit des Einzelnen gehen. Was benötigt jeder einzelne Mensch an Intervention, Hilfestellungen und Unterstützungen, um ein zufriedenes Leben führen zu können? Glück und Gesundheit sind nicht das gleiche, wie das äußerliche Beheben einer Störung auf Basis des Schemas "Nicht-Autist*in zu Autist*in".

Ich habe über viele Jahre gemaskt, war hart gegen mich selbst. Genau unter diesen äußerlichen Umständen, hätten Sie mich als weniger ASS-tauglich bewertet und mich für mein braves Engagement gelobt. Ich fiel kaum auf. Doch dabei habe ich meine Gesundheit beschädigt und meine Leistungsfähigkeit sank. Denn meine neurologische Andersartigkeit hat andere Ansprüche. 

Um gesund zu leben, eine hohe Leistungsfähigkeit zu haben und konsequent an meinem Glück zu arbeiten, muss ich mich als Autist leben. Das heißt für mich: Meine Leistungsfähigkeit - auch im beruflichen Wettbewerb mit Nicht-Autisit*innen - steigt, wenn ich mehr Autist sein kann. Hier sieht man, dass das Abstellen auf Störung in meinem Fall genau in die falsche Richtung geht. Ich bin jetzt offener und lebe mehr nach dem, was in der Diagnose unter Störung subsumiert wird und kann doch gleichzeitig auch in dern Nicht-Autist*innenwelt mehr leisten. Von daher sage ich ganz klar, dass ich im beruflichen Kontext nicht durch eine Störung labelt werden will. 

Je mehr ich mich bemühte, nicht in Ihre äußerliche Defizit-Definition AS-Störung zu passen, je mehr schädigte ich meine Gesundheit. Jetzt, wo ich frage, was brauche ich als Autist zum Glücklichsein (und dies Glück vice versa den anderen wünsche) lebe ich gesünder und bin wieder leistungsfähiger. 

Nochmal: Ich bin mir sehr bewusst, wie unterschiedlich die Menschen sind, die unter den Begriff Autismus zusammengefasst werden und ich möchte in keiner Weise für andere sprechen oder die Sorgen und Nöte herabsetzen. Mir geht es darum, dass wir darüber reden, dass das Wort Störung ein Framing enthält, dass der Medizin entglitten ist und in meinen Augen genau dorthin zurück geschoben gehört. 

Das Glück und die Gesundheit jedes Einzelnen ist wertvoll und muss in den Fokus rücken. 

 

 

1.)  https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-018l_S3_Autismus-Spektrum-Stoerungen_ASS-Diagnostik_2016-05-abgelaufen.pdf, Seite 22: "....so dass aktuell insgesamt eine Prävalenz von 0.9-1.1% für Autismus-
Spektrum-Störungen angenommen wird (Fombonne et al. 2011)...."

2.) Dawson, M., Soulières, I., Ann Gernsbacher, M., & Mottron, L. (2007). The Level and Nature of Autistic Intelligence. Psychological Science, 18(8), 657–662. https://doi.org/10.1111/j.1467-9280.2007.01954.x

"... broad sample of 38 autistic children on the preeminent test of fluid intelligence, Raven's Progressive Matrices. Their scores were, on average, 30 percentile points, and in some cases more than 70 percentile points, higher than their scores on the Wechsler scales of intelligence. Typically developing control children showed no such discrepancy, and a similar contrast was observed when a sample of autistic adults was compared with a sample of nonautistic adults. We conclude that intelligence has been underestimated in autistics...."

3.) Dreiarmige, randomisierte kontrollierte Studie zur Untersuchung des Effekts von FASTER und SCOTT Training für Erwachsene mit hoch-funktionaler Autismus Spektrum Störung abgerufen am 01.10.2022